metro_polis 2o19: Auswertung der Fahrten

2019 fand metro_polis in 15 Fahrten im laufenden Dresdner Straßenbahnbetrieb statt. Wieviele Fahrgäste am Gespräch teilnahmen, wie die Gespräche verliefen, welche Erfahrungen das Team gemacht hat – all das können Interessiert nun hier nachlesen. Viel Spaß bei der Lektüre!

Team

metro_polis wurde von einem Team aus 10 Personen, die die Moderationen der Gespräche übernahmen, durchgeführt. Der Nachweis einer beruflichen Qualifikation als Moderator*in oder Mediator*in war keine Voraussetzung dafür, Teil des Teams zu werden, obgleich die meisten diese oder andere Vorerfahrungen in der Moderation bereits mitbrachten. Entscheidend war der Wille zur Teilhabe am Projekt und die Unvoreingenommenheit gegenüber den teilnehmenden Fahrgästen. In Vorbereitung zu den Fahrten wurde ein Wochenend-Workshop für an der Moderation der Straßenbahn-Gespräche Interessierte durchgeführt. Dieser bereitet darauf vor, wie auf Grundlage der Methode der Gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg kontroverse gesellschaftliche Diskurse in konstruktive Dialoge übersetzt werden könnten. Im Nachgang zum Workshop traf sich das Team regelmäßig, um sich in Rollenspielen weiter auf die Moderation der Straßenbahngespräche vorzubereiten und absolvierte Trainings zu Deeskalationsmethoden, die im Notfall eingesetzt werden sollten.

Während der Durchführung des Projekts nahm das Team im Nachgang zu den jeweiligen metro_polis-Fahrten eine Auswertung der geführten Gespräche vor, evaluierte Gesprächsdynamiken sowie -situationen und trug die diskutierten Themen zusammen. Es nahm darüber hinaus einige Anpassungen an das Raumkonzept und die Begrüßung sowie Einladung zur Teilnahme neuer Fahrgäste vor und trug damit den Projektbedingungen vor Ort, die nicht vorhersehbar waren, Rechnung.[1]

Dokumentation und Datenerhebung

Auf Grund der dynamischen Raum- und Gesprächssituationen wurden von den Moderator*innen nur die relevantesten Informationen erfasst: die Teilnahmezahl und die von den Teilnehmenden genannten Themen. Weitere Daten wie Alter, Herkunft, Beruf etc. – die sicherlich hilfreich gewesen wären, um herauszufinden, ob das Projekt den eigenen Ansprüchen genügen konnte, die Breite der Fahrgäste zu erreichen und nicht nur eine oder mehrere spezifische Personengruppen – wurden nicht bzw. nicht systematisch erfasst.

Im Verlauf vieler Gespräche kamen zwangsläufig einige biographische Daten und Lebensumstände zu Tage. Um die Spannbreite der jeweils sehr unterschiedlichen persönlichen Hintergründe an drei Kategorien zu illustrieren seien Alter, soziale Stratifikation und politische Überzeugung genannt. Der jüngste Teilnehmende war ein 7-jähriger Grundschüler*, die älteste Teilnehmerin* eine 90-jährige Rentnerin*. Was die Spannbreite an sozialer Schichtung betrifft seien hier exemplarisch die obdachlosen Jugendlichen und ein ehemaliger Gefängnisinsasse* (zu dem Zeitpunkt ebenfalls von Obdachlosigkeit bedroht) genannt, die ebenso zufällig am Projekt teilnahmen wie ein Referent* des Sächsischen Staatsministeriums des Inneren und eine Wirtschaftsanwältin*. Was konträre politische Überzeugungen betrifft saßen sich sowohl Asylgegner*innen als auch -befürworter*innen im metro_polis-Gespräch gegenüber.

Anzahl Fahrten und Teilnahme

In 15 Fahrten – jeweils von Endstation zu Endstation und zurück – nahmen in rund 30 Stunden Fahrtzeit 450 Personen am Projekt teil. In den als Testphase bezeichneten ersten sechs Fahrten im Mai 2019 wurde an unterschiedlichen Tagen und zu verschiedenen Uhrzeiten gefahren; die Teilnehmendenzahl pro Fahrt lag dabei zwischen 35 und 62 Personen. Im zweiten Projektzeitraum (September bis November 2019) wurde sich im metro_polis-Team auf Grund der Verfügbarkeit der Moderator*innen auf Fahrten am Montagvormittag geeinigt – keine gute Wahl, was die Erreichbarkeit von Fahrgästen betraf. Die Bahnen wurden zu diesem Zeitpunkt wenig genutzt; dafür traf das Team überdurchschnittlich häufig auf Rentner*innen auf dem Weg zur Arztpraxis, was sich ebenfalls negativ auf die Teilnahmebereitschaft am Projekt auswirkte. Die Teilnahme an metro_polis lag in diesem Zeitraum zwischen 16 und 51 Personen pro Fahrt.

Belastungsfaktoren: Lärm und Fluktuation

Die in einer Straßenbahn vorzufindenden Bedingungen stellten den Erfolg des Projekts im Vorhinein bereits in Frage: Wie können Gespräche, die auf einen kurzen Zeitraum terminiert sind, ein positives Gesprächserlebnis mit unbekannten Fahrgästen ermöglichen? Wie können überhaupt konstruktive Gespräche unter Lärmbelastung und Fluktuation in Straßenbahnen entstehen?

Tatsächlich stellte sich die Geräuschkulisse für viele Teilnehmenden aber auch Moderator*innen als ein Belastungsfaktor heraus, der jedoch nur in Ausnahmefällen zum Abbruch der Gespräche führte – überwiegend bei älteren, schwerhörigen Personen. Da die allermeisten Gespräche ca. 15-20 min. dauerten, erschien den Teilnehmer*innen die Lärmbelästigung für diesen Zeitraum offensichtlich als ertragbar und akzeptabel. Auch die Fluktuation der Gesprächsteilnehmenden war weniger störend als im Vorhinein befürchtet: Viele Teilnehmende fuhren über einen längeren Zeitraum als erwartet mit der Bahn (30-45 min.), einige kamen gezielt zum Projekt und nahmen die komplette Fahrt über am Gespräch teil (2 Stunden), nur sehr wenige Teilnehmende fuhren weniger als 10 Minuten. Das minderte die Qualität der Gespräche jedoch nicht unbedingt, weil die Personen die Themen, die sie am meisten beschäftigten, sofort und gezielt ins Gespräch einbrachten.

Themen

Da das metro_polis-Team davon ausging, dass eine festgelegte z.B. politisch-orientierte Themenauswahl möglicherweise in eine direkte Polarisierung führen könnte und dann hoch emotionalisiert ausgetragen werden würde, überließ das Team den Teilnehmenden selbst, den Gesprächsschwerpunkt zu setzen: Alle Themen, die die Fahrgäste bewegten und über die sie sich austauschen wollten, konnten ins Gespräch eingebracht werden.

Anders als im Vorhinein angenommen, fielen die großen Streitthemen seit 2015 – Flucht und Asyl – nicht häufiger als andere gesamtgesellschaftliche und globale Themen wie Klimawandel, Erwerbsarbeit, Digitalisierung, Einsamkeit, soziale Gerechtigkeit, Mietpreisentwicklung und Wohnraum, Zugehörigkeit, Heimat oder gesellschaftliche Verantwortung. Darüber hinaus berichteten viele über persönliche Problemlagen, z.B. in der Pflege von Angehörigen, eigene psychische Erkrankungen, familiäre Schwierigkeiten, Gewalterfahrungen etc. Neben schweren Themen, die häufiger im Dialog zwischen Moderator*in und einzelnem Fahrgast besprochen wurden, gab es viele Gespräche, in denen Teilnehmer*innen ermutigende Lebenserfahrungen und -umstände miteinander teilten: Personen, die einer besonders seltenen Freizeitaktivität nachgingen, berichteten begeistert über ihr Hobby; Fahrgäste, die spannende Berufsfelder und -erlebnisse teilten; Fahrgäste, die ihren Dialogpartner*innen in schwierigen Lebenssituationen direkte Hilfestellungen aus ihrem Erfahrungshorizont mitgeben konnten. Gerade in diesen Gesprächssituationen zeigte sich, dass fehlende gesellschaftliche Kommunikation nicht nur enorme Schwierigkeiten in Hinblick auf das konstruktive Austragen von Streitthemen zeitigt, sondern auch, dass der direkte zwischenmenschliche Austausch von Wissen und anderen (sozialen/kulturellen) Ressourcen ein Gewinn für jede*n Einzelne*n und damit wiederum für die Gesellschaft als Gesamtes darstellen kann.

Gesprächsatmosphäre

Die Gespräche fanden in Form von Dialogen zwischen Fahrgast und Moderator*in (ca. 65 % der Gespräche), Dialogen zwischen zwei Fahrgästen (ca. 25%) und Gespräche mit bis zu 3 Personen (ca. 10%) statt. Durch den direkten persönlichen Kontakt und die Moderation blieb der Ton und die Gesprächsatmosphäre auch bei kontroversen Themen immer respektvoll. Zum Beispiel wurde keine Diskussion lautstark geführt, es fielen keine beleidigenden Worte. Keine teilnehmende Person wurde – zumindest nach Einschätzung der Moderator*innen – von einer anderen in eine bestimmte Überzeugung oder Position agitiert.

Feedback

Die große Mehrheit der Teilnehmenden zeigte sich von der Idee des Projekts begeistert. Einige äußerten sich explizit dankbar darüber, dass metro_polis den sonst so schweigsamen Raum der Straßenbahn in eine angeregte Diskussionsplattform verwandelte und waren über die geführten Gespräche und das ungezwungene Kennenlernen der Sitznachbar*in sichtlich erfreut.

Es gab auch verärgerte Reaktionen: Fahrgäste, die nicht am Projekt teilnehmen wollten, zeigten ihren Unmut über die Lautstärke der sich unterhaltenden Menschen, lehnten es jedoch häufig ab, den Sitzplatz in einen ruhigeren Abschnitt der Bahn zu verlegen. Einige Teilnehmende verließen die Gesprächssituation unbefriedigt, weil metro_polis ihrem Wunsch, dass ihre Erfahrungen oder Forderungen auf politischer Ebene behandelt werden, nicht entsprechen konnte und sie die Sinnhaftigkeit eines „bloßen“ Gesprächs ohne politische Wirkungsmächtigkeit in Frage stellten. Bei vielen Fahrgästen schien nach der Auffassung des metro_polis-Teams leichtes Misstrauen („Sind Sie von einer Partei?“), vor allem aber große Überraschung bzw. leichte Überforderung, versehentlich mitten in ein Gesprächsprojekt hineingeraten zu sein, vorzuherrschen („Was soll ich denn sagen?“ „Mir fällt nichts ein“). Der Vertrauensaufbau, den die einzelnen Moderator*innen im Gespräch mit den Fahrgästen leisteten, führte dazu, dass ein Großteil der Gespräche als Dialoge zwischen Fahrgast und Moderator*in stattfanden. Dieses war sicherlich nicht das Ziel der Idee, aber nachvollziehbarerweise dem Umstand geschuldet, dass das Projekt trotz Bekanntmachungen im Straßenbahn-Fernsehen den meisten Fahrgästen unbekannt war.

Ausschnitt aus dem Beitrag „metro_polis: Gesellschaftlicher Dialog in Bewegung“; veröffentlicht in: Julia Leser, Rebecca Pates, Jamela Stratenwerth (Hg.) (2021) „Deutsch ≠ Deutsch – Ein Bericht über die Multiplizität nationalen Denkens in Deutschland und die Veränderbarkeit nationaler Narrative mithilfe Politischer Laboratorien.“ wbg Verlag. 


[1] Das Team stellte bereits in der ersten Fahrt fest, dass das Raumkonzept zu statisch gedacht war. Fahrgäste, die bereits ihren Sitzplatz eingenommen hatten, verließen diesen meistens nicht oder nur sehr ungern. Damit teilnahmewillige Fahrgäste, die außerhalb des markierten Projektraums Platz genommen hatten, dennoch Gespräche im Rahmen von metro_polis führen konnten, kamen die Moderator*innen zu ihnen. Ab diesem Zeitpunkt übernahm mindestens eine Person des Teams die Aufgabe, bei Eintreten in die Bahn über das Projekt zu informieren und zur Teilnahme in den Projektraum einzuladen.

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